In Großbritannien melden Ärztinnen und Ärzte eine besorgniserregende Zunahme von Krankheiten, die als „viktorianisch“ galten. Vor allem Krätze, Erysipel und Unterernährung treten häufiger auf – vor allem bei Menschen, die unter Armut, schlechten Wohnbedingungen und fehlender medizinischer Versorgung leiden. Der Royal College of Physicians (RCP) fordert deshalb schnelle Maßnahmen von der Regierung.
Medizinischer Alarm wegen wachsender sozialer Ungleichheit
Laut einer aktuellen Umfrage unter 882 britischen Ärzten sehen 89 Prozent eine enge Verbindung zwischen sozialer Ungleichheit und der Gesundheit ihrer Patienten. Fast drei Viertel (72 %) berichteten, in den letzten drei Monaten mehr Fälle gesehen zu haben, bei denen Krankheiten direkt durch schlechte Lebensbedingungen, Luftverschmutzung oder fehlenden Zugang zu öffentlichem Verkehr verursacht wurden.
Rund 47 Prozent der befragten Mediziner gaben an, dass soziale Faktoren bei mehr als der Hälfte ihrer medizinischen Arbeit eine Rolle spielen. Viele betonen, dass diese Entwicklung das Gesundheitssystem stark belastet.
Rückkehr längst besiegt geglaubter Krankheiten
In mehreren Regionen Großbritanniens wurden laut Ärzten vermehrt Krätze-Fälle dokumentiert. Diese hoch ansteckende Hautkrankheit, verursacht durch Milben, breitet sich besonders dort aus, wo viele Menschen auf engem Raum leben. Auch Unterernährung wird häufiger festgestellt, was die Heilung bei akuten Krankheiten erheblich erschwert.
Ärztinnen und Ärzte berichten zudem von Unterkühlungen, insbesondere bei älteren Menschen in unbeheizten Wohnungen. Viele dieser Fälle wären bei besseren Lebensumständen vermeidbar.
Experten sehen Armut als Hauptursache
Dr. Ash Bassi, ein Gastroenterologe aus Merseyside, schildert:
„Feuchte, kalte Wohnungen verschlechtern viele chronische Krankheiten – besonders Atemwegserkrankungen. Und mangelnde Ernährung führt zu langfristigen Schäden.“
Er weist auch darauf hin, dass viele Menschen mit finanziellen Sorgen medizinische Hilfe zu spät suchen, weil sie sich den Weg zur Praxis oder Medikamente nicht leisten können.
Royal College of Physicians fordert politischen Kurswechsel
Dr. John Dean, Vizepräsident des Royal College of Physicians, fordert klare Maßnahmen der Regierung. Die sogenannte „Health Mission“ müsse nun zeigen, wie Armut, schlechte Ernährung, Luftverschmutzung und ungesunde Wohnbedingungen systematisch bekämpft werden sollen.
Dean betont:
„Bis zum Jahr 2040 werden über 2,5 Millionen Menschen in England mit einer schweren chronischen Krankheit leben. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“
Regierung verweist auf eigene Strategie
Ein Sprecher des britischen Gesundheitsministeriums verwies auf den „Plan for Change“, mit dem man die gesundheitlichen Unterschiede zwischen armen und reichen Regionen halbieren wolle. Der Plan sieht vor, verstärkt auf Prävention zu setzen, um das Gesundheitssystem langfristig zu entlasten.
Zahlen und Fakten: Die wichtigsten Hintergründe
- Krätze-Fälle in Großbritannien haben sich laut Public Health England in den letzten fünf Jahren verdoppelt.
- Unterernährung wird bei immer mehr Krankenhausaufnahmen festgestellt – insbesondere bei älteren Menschen.
- Laut einer Studie der Joseph Rowntree Foundation leben 14,5 Millionen Menschen im Vereinigten Königreich in Armut – darunter viele Kinder.
- Heizkosten und Inflation führen zunehmend dazu, dass sich viele Menschen zwischen Wärme und Essen entscheiden müssen.
Experten sehen Handlungsbedarf
Die Rufe aus der Medizin sind eindeutig: Armut ist ein gesundheitliches Risiko – vergleichbar mit Rauchen oder Bewegungsmangel. Die Politik müsse strukturelle Lösungen anbieten, etwa durch bessere Wohnungsprogramme, kostenlose Gesundheitsangebote oder Ernährungshilfen.
„Wir brauchen keine symbolischen Gesten, sondern echte Reformen“, so ein Arzt aus Birmingham.
„Die Rückkehr viktorianischer Krankheiten ist kein medizinisches Problem – es ist ein politisches.“